Sieglinde Noll
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Das letzte Abendmahl
 
Jeder fromme Jude verbringt die Tage des Pascha nach Möglichkeit in der heiligen Stadt. Und so kam es, daß auch Jesus mit den Seinen nach Jerusalem ging, um dort das Paschamahl mit den Seinen zu essen und die ungesäuerten Brote.
Nach alter Sitte traf man sich, und der Jüngste in der Gruppe hatte zu fragen, welche Bewandtnis es mit der Feier des Pascha habe. Dann erzählte der Älteste über den Auszug aus Ägypten und über die wundersame Errettung aus allen Gefahren.
Wenn dies vorbei war, ging man zum gemeinsamen Mahl über, das auch sein bestimmtes Ritual hatte, denn das Lamm mußte einjährig und ohne Fehl und Makel sein: nur Reinstes sollte an diesem Tag Gott zum Opfer dargebracht werden.

Als nun die Jünger zu Tische waren, begann er, Jesus, mit dem Segensgebet.
Allerdings war es diesmal anders als sonst, da Jesus das Brot, das er in Händen hielt, mit sich selbst verglich: Wie es durch das Essen aufgezehrt wird, so werde auch er, sein Leben, aufgezehrt, aufgezehrt, wenn er es hingeben müsse.
Er wollte dabei die Jünger beruhigen, etwas Schlimmes oder Außergewöhnliches in seinem Tod zu sehen.
Denn wie es normal ist, daß Brot gegessen wird, so sei es auch normal, daß er des Todes sei und sein Leben opfern müsse , daß sie alle zur Besinnung kämen über das, was sie alles tun.
Auf ähnliche Weise ging es, als Jesus den roten Wein im Becher sah.
Unwillkürlich erinnerte es ihn an die Greuel, die Menschen anderen Menschen zu tun bereit waren, indem sie vor der Vergießung von Blut nicht zurückschreckten.
Gedankenschwer schaute er in den Becher, ebenfalls auch wir, überlegend, ob er ein blutiges Ende nehmen würde und welche Leiden denn wohl auf ihn zukämen und wie grausam eventuell die Menschen mit ihm umspringen würden.
Eine eigenartige Atmosphäre war über der Tafelrunde. Und beim Essen des Fleisches des Lammes fiel die Parallele ein, daß, wenn sie ihn sterben lassen würden, gleichsam sein Fleisch essen würden wie die Jünger jetzt beim Essen des Osterlammes.
Und sie sannen darüber nach, wie es kommt, daß überhaupt Unschuldiges sterben muß. Was hatte das Lamm getan, daß es jetzt geschlachtet würde, wo doch sein Leben noch gar nicht erfüllt war. Nichts Böses hatte es den Menschen getan. Sie aber bemächtigten sich seiner, es durch das Essen gierig in sich aufnehmend.
Und es wurde ihnen deutlich: Nicht das Leben war für das Lamm das eigentlich Wichtige, sondern sein Sterben. Durch seinen Tod bekam es Rang, Bedeutung, Bestimmung, Speise für die Menschen zu werden.
Seine Reinheit und Unversehrheit war wichtig, daß auch die Menschen, die es aßen, sich rein und lauter fühlen konnten: Mit der Unschuld des Lammes wurden auch sie geläutert und gereinigt. Seine Reinheit und Unversehrheit übertrug sich auf sie , wurde das Lamm ja auch nicht irgendwie getötet, sondern in heiligem Zeremoniell vom Priester selber geschlachtet nach ganz bestimmten zeremoniellen und rituellen Handlungen.
Die Jünger merkten, daß, wenn Jesus hingerichtet würde, er sei wie ein Opferlamm, das zur Schlachtbank geführt wird, ohne daß er etwas Böses getan hat.

Sollte der Tod Jesu etwa die Bewandtnis haben wie der Tod des Osterlammes, daß durch es die Menschen rein und geläutert würden? Durch das Essen des Lammes hatte man teil an seiner Unschuld, bekam die Kraft im Leben, die man zur Bewältigung des Lebens braucht.
So konnte es werden, daß jedes Mahl, jedes Schlachten eines Lammes an Jesus erinnern konnte und sollte.
In überschwenglicher Freude bemerkten seine Jünger, daß Jesus wirklich als Opferlamm, das zur Vergebung der Sünden Gott dargebracht wird, in besonderer Weise Gott wohlgefällig sein müsse.
Kannte man im Alten Testament ja auch Menschenopfer. Und auch die Ägypter hatten nicht vor der Opferung der Erstgeburt zurückgeschreckt.

Was sollte nur mit diesem Jesus geschehen? War es nicht genug, daß er alle heilte, die zu ihm kamen und die sich auf seine Wunder- und Heilkraft beriefen?
Jesus aber durchschaute sie, waren sie ja aus auf ihre Heilung, auf ihre Rettung, vergessend den, der ihnen Hilfe und Heil brachte, daß auch er der Hilfe und der Zuwendung und der Hilfe bedürfe, dann nämlich, wenn er von seinen Gegner angegriffen würde. Aber man profitierte von ihm, selber kaum Bereitschaft zeigend, für ihn einzustehen.
 
So kam es denn, daß Jesus verraten, gefunden und dem Hohem Rat überliefert wurde.

Sieglinde Noll | Sieglinde.Noll@gmx.de